von Stefan Franzen
Seit den Aufnahmen des Buena Vista Social Club sind bei uns die Kuba-Klischees musikalisch gefestigt worden. Dass es auf der Karibik-Insel natürlich auch eine junge Szene gibt, die auf HipHop und artverwandte Spielarten setzt, ist zwar bekannt, etwa durch die Tourneen der Orishas. Doch sie führen in unserer Wahrnehmung eher ein Schattendasein. Wolfgang Wick von der Freiburger Werbeagentur »Büro Magenta« kam in Havanna durch einen Glücksfall in die Reggaetón-Szene hinein und versucht nun, mit einem CD-Buch ein Kuba hinter den schönen Kulissen zu zeigen – und gleichzeitig den Musikern vor Ort zu helfen.
Mit seinem Büro Magenta gestaltet Wick unter anderem Kataloge für den Reiseveranstalter avenTOURa, der sich 2010 von seinem bisherigen Kuba-Fotografen trennte. Wick bekam daraufhin von dem Veranstalter das Angebot, nach Havanna zu fliegen und neue Kontakte zu etablieren. »Im Nebensatz sagte er dann noch zu mir: ‚Schau doch mal, was es da Neues gibt.’ Und da fing ich schon im Vorfeld an zu recherchieren und stieß auf den Reggaetón.« Der karibische Musikstil, der in Panama, Puerto Rico und der Domrep entstand, speist sich aus HipHop, Dancehall und Merengue und ist geprägt von erotisch aufgeladenen Texten. Er dient der jungen Generation als Alltagsflucht, besitzt nicht das sozialkritische Bewusstsein des Rap, klammert politische Texte allerdings auch nicht aus.
In Havanna angekommen, machte sich Wick auf die Suche nach der kubanischen Subkultur. Im Cabaret Nacional wurde er Augenzeuge, wie sich nach Mitternacht die Klientel wandelt: »Die Salseros gehen nach Hause, und der Reggaetón übernimmt die Tanzfläche, in einer bombastischen Lautstärke. Er ist allerdings nur geduldet – werden die Texte zu frech, dreht man den Jugendlichen den Strom ab.«
Wick ließ sich auch ins Stadtviertel Lawton führen, wo es das Projekt Muraleando gibt. »Die Leute besitzen dort wirklich gar nichts, leben in primitivsten Häusern – aber sie haben ihre Träume auf diese Häuser draufgemalt. Einer der Gründer dieser Bewegung ist der Rapper Mario MC. Der hat uns in das winzige, improvisierte Tonstudio der Company Yoruba geführt, wo er, aber vor allem auch die Reggaetóneros, Songs mit einem altersschwachen Computer aufnehmen. Und zum Abschied hat er mir eine gebrannte CD in die Hand gedrückt und gesagt: ‚Veröffentliche das bitte, ich will bekannt werden.’«
Zurück in Deutschland entwickelte Wick die Idee, mit Songs von Mario MC und seinen Studiokollegen eine ganze CD zu designen. Allmählich konnte er den Reiseveranstalter überzeugen, mit einem solchen Begleitprodukt eine Reisevariante zu promoten, bei der man Kuba nicht unter einer Wohlfühlglocke erlebt, sondern den Alltag sieht.
Als er das Ok hatte, flog er 2011 nochmals nach Havanna und machte mit neun Musikern Fototermine, die ihre schon eingespielten Songs zur Verfügung stellten. Aus diesen wählte er die griffigsten aus und gestaltete mit Musik, Bildern und Hintergrundreportage das CD-Buch »Malecón Buena Vista«.
»Es sind jetzt ganz unterschiedliche Persönlichkeiten dabei: Die politisch eingefärbte Rositi-K – im Reggaetón sind Frauen gleichberechtigt! –, der smarte Womanizer El Poeta und sogar ein Duo, das Richtung Gospel geht.« Wicks Projekt ist keine Einbahnstraße von der Karibik zu den Europäern. Er sorgte dafür, dass jeder der beteiligten Musiker 50 Exemplare des Buches zur Eigenwerbung bekam, außerdem einen Geldbetrag, der in Kuba einem Dreimonatsgehalt entspricht. »Für mich war das mal eine schöne Sache, ein Designprodukt zu entwickeln in Verbindung mit einem guten Zweck.« Stolz zeigt er Briefe von den jungen Reggaetonerós, zu denen er bis heute gute Kontakte hat.
Mittlerweile plant Wick schon ein neues Projekt, wieder in Zusammenarbeit mit dem Reiseveranstalter: Mit ehemaligen Straßenkindern der Musikschule von Londrina im brasilianischen Bundesstaat Paraná soll ein CD-Buch zur kommenden Fußball-WM entstehen.
Veröffentlicht am 18. Januar 2013 in der gedruckten Ausgabe der Badischen Zeitung
von Wolfgang Wick
Kuba denkt um – nach und nach wandeln Reformen die sozialistische Insel. Das spiegelt sich auch in der Musik wider. Rap, Reggaetón und Hip-Hop stehen für das Lebensgefühl der jungen Generation. Die CD »Malecón Buena Vista« ist ein aktueller Sampler, auf dem sich junge Musikerinnen und Musiker aus Havanna vorstellen. Sie lieben ihr Land und träumen fast alle davon, einmal im Leben im Madison Square Garden aufzutreten.
Qué tu dices
Der Madison Square Garden in New York heißt bei Insidern einfach nur The Garden und ist laut Selbstauskunft »the most famous Arena of the World«. Viele legendäre Boxkämpfe fanden hier statt, aber auch Konzerte, die Musikgeschichte schrieben. George Harrison gab hier sein Concert for Bangladesh. John Lennon, ... Elton John, The Police oder Billy Joel schmückten ihre Tourneepläne mit Gigs im Garden. Michael Jackson feierte sein 30jähriges Bühnenjubiläum im Rundbau von Manhattan. Es ist also kein Wunder, dass auch kubanische Rapper, Hip-Hopper oder Reggaetóneros und Reggaetóneras davon träumen, einmal im Leben im Madison Square Garden aufzutreten.
No babas tú triunfo, no bebas tu vida
Der Weg dorthin wird zumindest von Regierungsseite aus immer kürzer. Das Land öffnet sich. Ab 2013 darf ausreisen, wer Pass und Visum besitzt – eine von vielen Reformen, die das sozialistische Land nach und nach verändern. Die junge kubanische Musik setzt den allgegenwärtigen Salsa- und Son-Klängen ein neues Lebensgefühl entgegen. Heraus kommt ein Crossover aus landestypischer Instrumentierung und importierten Rhythmen, benannt nach ihren latein- und US-amerikanischen Vorbildern Rap, Reggaetón und Hip-Hop.
»Ich mache Musik, um jungen Leuten Ratschläge zu geben. Ich möchte einen Wandel in den Köpfen erreichen.« sagt Mario Delgado Sotomayor, genannt Mario MC, Rapper und Hip-Hopper aus Havanna. »Ich möchte die Leute zum Nachdenken bringen … . Das Besondere an meiner Musik sind positive Botschaften, gute Texte und unendliche Reime.«
Wie viele seiner Kollegen will er Botschaften vermitteln und ist doch weit entfernt von den oft drastischen Statements seiner US-amerikanischen Vorbilder. Kubanische Rap-, Reggaetón- und Hip-Hop-Songs beziehen selten direkt Stellung gegen die sozialistische Regierung oder deren Reglementierungen. Die Musiker beschreiben oft verschlüsselt, was junge Menschen auf Kuba vermissen oder regen Verbesserungen an. Die Texte folgen der hohen Kunst, ihre Kritik zwischen die Songzeilen zu packen.
Una Adivina creada con todos elementos
Kein geringerer als Harry Belafonte soll es gewesen sein, der Fidel Castro während eines Essens die Hip-Hop-Kultur näher brachte. Der Máximo Líder war beeindruckt und erhob den Musikstil zur »Avantgarde der Revolution«. Hip-Hop und Rap sind auf Kuba Staatskultur: Es gibt ein seit 1995 jährlich stattfindendes Hip-Hop-Festival in Havanna, das internationale Künstler anlockt, ein staatseigenes Plattenlabel, Radio- und TV-Shows. Rund 500 Bands sollen auf der Insel Musik machen, einige davon, wie die Orishas, sind international erfolgreich. Kritik ist erlaubt, solange sie nicht als konterrevolutionär betrachtet wird …
Reggaetón-Musik gilt als zu kommerziell: zu viel Konsum, Lust auf Parties, provokante Erotik, zu viel Flucht aus dem Alltag. Im Gegensatz zu vielen Rappern, die eine musikalische Ausbildung an staatlichen Musikschulen vorweisen können, sind die Reggaetóneros und Reggaetóneras, wie sich die Sänger und Sängerinnen nennen, oft reine Autodidakten.
»Ich fing an, Kindern im Stadtteilprojekt ‚Muraleando‘ Musik-Workshops anzubieten. Dies wurde dann mein Aufgabenbereich«, erzählt Mario MC auf die Frage, wie er zur Musik kam. »Ich zeigte ihnen, wie man Musik fühlt und wie man seine Gefühle in Musik ausdrückt. Rap und Reggaetón erschienen mir ideal. Nach vier Jahren Musikunterricht fing ich an, die Reggaetónlieder der Kinder aufzunehmen. So kam ich auf die Idee, auch meine eigenen Songs zu produzieren.«
AaaaYYYY ve lucha por tus suenos
Die Mischung aus Reggae, Salsa, Merengue und Hip-Hop wurde in den 2000er Jahren mit Elementen des landestypischen Timba gewürzt, der aus dem kubanischen Son – bei uns bekannt durch Buena Vista Social Club – hervorgegangen ist. Diese Kombination bildet den typisch kubanischen Reggaetón, auch Cubaton genannt.
Die Übergänge von Rap, Reggaetón und Hip-Hop auf Kuba sind oft fließend. Viele Musikerinnen und Musiker verstehen sich als Vertreter verschiedener Musikgattungen. »Ich bin Rapper und Reggaetón-Musiker«, erklärt José Alberto Jabiqué Vinet, ein weiterer Kollege von Mario MC.
Ihre Musik entsteht in provisorischen Hinterhausstudios, ausgekleidet mit Eierkartons und dicken Teppichen: Hier nehmen sie ihre Stücke auf, brennen sie auf CDs und kümmern sich selbst um den Vertrieb. Nur wenige haben Zugang zum Internet.
Im Rahmen einer Kubareise entstand die Idee, diese neue, junge Musik Kubas in Deutschland vorzustellen. Der Reiseveranstalter avenTOURa unterstützte dieses Vorhaben mit der Produktion der CD »Malecón Buena Vista«.
Die Stimmung der beteiligten Musikerinnen und Musiker ist enthusiastisch. Das Projekt gibt ihnen eine Möglichkeit, die sie in Kuba nur begrenzt haben: sich und ihre Musik über die Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen.
* Die Zwischenüberschriften sind Zitate aus dem Song »Qué tu dices«, gesungen von Rositi-K und El más Kompleto, Company Tadicion Yoruba, Havanna.
Interview mit Mario MC von Birgit Bienhaus und Wolfgang Wick
Havanna, Lawton, 14. Oktober 2011
Mario Delgado Sotomayor, wie Mario MC mit bürgerlichem Namen heißt, wurde im Juni 1976 in Havanna geboren. Wir befragten Mario MC, Mit-Initiator des Projektes Muraleando in Havanna und »Auslöser«
für die CD »Malecón Buena Vista«, wie er dazu kam, Rap-Musiker zu werden.
Mario, was bedeutet Rap-Musik für Dich und was ist das Besondere daran?
Als allererstes muss ich sagen, dass ich Rap-Musik liebe. Sie ist die ideale Möglichkeit für mich auszudrücken, was in meinem Herzen vorgeht, was mich bewegt. Das möchte ich weitergeben. Rap hat
großen Anteil an meinem Leben, ich praktiziere die Musik im Grunde von morgens bis abends.
Ich mache Musik, um jungen Leuten Ratschläge zu geben. Ich möchte einen radikalen Wandel in den Köpfen, die negative Gedanken haben, erreichen. Ich möchte die Leute zum Nachdenken bringen, die
meinen, dass die Welt verloren ist. Das Besondere an meiner Musik sind positive Botschaften, gute Texte und unendliche Reime.
Das Wichtigste ist: Ich schreibe erst die Texte und mache danach die Musik. Die Texte übermitteln die Inhalte, die Musik bringt sie in die Köpfe der Zuhörer. Rap-Musik ist eine komplizierte und
komplexe Art von Musik.
Welche Instrumente verwendest Du?
Kick (große Trommel), Snare (kleine Trommel), Platillos (Becken), Clave (Holzschlaginstrument), Klavier, Gitarre, Bass, Geige, großes und kleines Schlagzeug.
Wie bist Du zur Rap-Musik gekommen?
Als ich 15 Jahre alt war, starb meine Mutter. Mein Vater hatte uns schon verlassen, als ich sechs war. Plötzlich war ich allein und komplett auf mich gestellt. Es gab keine Perspektive mehr für
mich, und schlagartig erschien alles aussichtslos. Ich kam mit Leuten zusammen, die mir letztendlich nicht gut taten und mir Probleme brachten. Das hab ich damals allerdings noch nicht
registriert, das kam erst später. Schließlich landete ich wegen kleinerer Delikte im Gefängnis, wo ich sehr viel Zeit zum Nachdenken hatte. Ich sah es als echte Bestrafung für einen falsch
eingeschlagenen Lebensweg.
Damals wurde mir klar, dass ich so nicht weitermachen konnte – ich musste mein Leben ändern. Zudem wurde mir bewusst, dass es viele junge Leute gibt wie mich. Also fasste ich den Entschluss, nach
einer Möglichkeit zu suchen, anderen Leuten, denen es ähnlich geht wie mir, neue Lebensinhalte zu geben und Wege für neue Chancen zu öffnen.
Ich lernte Englisch, da ich wusste, dass ich mit der Sprache viel mehr Möglichkeiten hatte. Nach meiner Entlassung setzte ich mich mit Manuel Díaz Baldrich, einem Maler und Designer aus meinem
Heimatort Lawton, zusammen. Lawton ist ein Stadtteil von Havanna. Dort gab es viele Kinder und Jugendliche, die sich nach der Schule auf der Straße langweilten. Wir wollten ihnen Sinn und Halt in
ihrem Leben geben. Sie sollten nicht Ähnliches erleben und durchmachen müssen wie ich.
Zudem türmten sich an jeder Ecke Müllberge, die immer größer wurden, und überhaupt erschien der Stadtteil nicht besonders ansprechend. Wir überlegten uns, wie wir den Jugendlichen einerseits eine
sinnvolle Gestaltung ihrer Freizeit geben und andererseits auch unseren Stadtteil verschönern konnten.
So gründeten wir im Jahr 2002 Muraleando, was soviel wie Wände bemalen bedeutet. Es kommt von »Mural«, Wandbild. Wir trommelten den Nachwuchs zusammen. Unsere Idee wurde begeistert aufgenommen
und fand großen Anklang. Nach und nach verzierten farbenfrohe Gemälde die Straßen von Lawton. Die Müllberge verschwanden, und an ihrer Stelle entstanden wunderschöne Plätze zum Verweilen oder
einfach nur zum Anschauen. Aus alten Schreibmaschinen oder ausgedienten Autofelgen erwuchsen Skulpturen, echte Kunstwerke, die bunt angemalt endlich Farbe in die vormals tristen Straßen
brachten.
Irgendwann kamen wir auf die Idee, den Kindern zusätzlich Musik-Workshops anzubieten. Dies wurde dann mein Aufgabenbereich. Ich zeigte ihnen, wie man Musik fühlt und wie man seine Gefühle in
Musik ausdrückt. Rap und Reggaetón erschienen mir dafür ideal. Nach vier Jahren Musikunterricht fing ich an, die Reggaetónlieder der Kinder aufzunehmen. So kam ich auf die Idee, auch meine
eigenen Songs zu produzieren. Für mich bevorzuge ich aber eher Rap/Hip-Hop, was in Kuba das Gleiche ist. Leider musste ich aber mangels finanzieller Mittel die Musikaufnahmen wieder
einstellen.
Bekommt Ihr kein Geld für Muraleando? Wie kommt es, dass Du trotzdem CDs produziert hast?
Nein, Muraleando läuft komplett ehrenamtlich. Uns ist in erster Linie wichtig, die Lebensqualität in unserem Viertel zu erhöhen, und das ist uns gelungen. Dieser Traum ist wahr geworden. Da mich
die Musik nicht mehr losgelassen hat, habe ich mich mit anderen Rappern und Reggaetóneros zusammengetan, die alle sehr engagiert sind. Man hilft und unterstützt sich gegenseitig. So habe ich Rosa
und Ashlie von Company Yoruba kennen gelernt, die sich ein kleines Tonstudio eingerichtet haben. Jeder hat seinen eigenen Stil. Das ist eine echte Bereicherung für mich. Ich bringe auch die
Jugendlichen von Muraleando mit anderen Musikern zusammen, um ihnen neue Anregungen und neue Eindrücke zu vermitteln.
Mario, eine Frage zum Abschluss: Welchen Wunsch hast Du für die Zukunft?
Ich möchte gern die Welt bereisen und Konzerte geben, wo ich will.
Ende der 1990er Jahre erreichte eine neue Musikrichtung die Karibikinsel Kuba: der Reggaetón. Seinen Ursprung hatte er in Ländern wie Panama, Puerto Rico, Venezuela und Kolumbien. Der kubanische
Musiker Candyman griff den neuen Impuls als erster erfolgreich auf. Mit seinem originellen, jamaikanisch geprägten Stil gelang ihm der Sprung in die Top Ten der kubanischen Charts.
Die Mischung aus Reggae, Salsa, Merengue und Hip-Hop wurde in den 2000er Jahren mit Elementen des landestypischen Timba gewürzt, der aus dem kubanischen Son – bei uns bekannt durch Buena Vista
Social Club – hervorgegangen ist. Diese einzigartige Kombination bildet den typisch kubanischen Reggaetón, auch Cubatón genannt. Prägend für den Sound sind traditionelle Holzschlaginstrumente wie
Calves und Platillos, ergänzt durch die im Reggaetón übliche Instrumentierung mit Gitarre, Klavier, Bass, Geige und Schlagzeug. Ebenfalls erforderlich ist ein Soundsystem mit Mischpult, Mikrofon
und Lautsprecher.
Als Candyman aus Santiago de Cuba entwickelte Ruben Cuesta Palomo den Cubatón. Er war einer der ersten kubanischen Reggaetóneros. Seine Musik ist eine Mischung aus Jamaican Dancehall, Reggae, Rap
und Salsa. Er lebt in Kuba und veröffentlicht seit 2019 unter Kandyman und der Kobalt Music Group.
Reggaetón ist die Musik, die die Jugend in Lateinamerika am liebsten hört. Die Rhythmen sind mitreißend, vermitteln gute Laune und machen Lust auf Tanzen und Party. Dabei sind die Reggaetóneros
und Reggaetóneras, wie sich die Sänger und Sängerinnen nennen, oft reine Autodidakten – im Gegensatz zu vielen Rappern, die eine musikalische Ausbildung vorweisen können.
Für kubanische Jugendliche sind Reggaetón-Partys kleine Fluchten aus dem Alltag. Die Reggaetóneros bedienen dieses Bedürfnis gern auch mit erotischen Inhalten. Sofern die Texte jedoch zu
provokant ausfallen und ein »Offizieller« vorbeischaut, kann es durchaus vorkommen, dass dieser die Stromzufuhr kappten lässt und die Party abrupt zu Ende ist. Die Jugend weiß sich jedoch zu
helfen: Sie hängt Partys mit ‚ihrem’ Sound oft einfach an Veranstaltungen mit »erlaubter« Musik an.
Der kubanischen Regierung gilt Reggaetón-Musik als zu kommerziell. Kommen die Reggaetón-Anhänger selbst zu Wort, so wünschen sie sich Unabhängigkeit von Politik und sehnen sich nach Freiheit und
guter Stimmung. Auf der Reggaetón-Tanzfläche wird meist improvisiert. Obwohl es Tanzschritte gibt, die denen des Salsa ähnlich sind, übernimmt der Mann nicht unbedingt die Führungsrolle. Jede und
jeder tanzt, wie er oder sie möchte: allein, zu zweit oder auch zu dritt. Die wichtigste Regel ist, dass es keine Regeln gibt. Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Der Musikwissenschaftler
Geoffrey Baker nennt diesen Tanzstil »Politics of the Body«.
von Wolfgang Wick
Inmitten niedriger Lagerhäuser parken zwei historische Motorroller aus den 50er Jahren. Daneben ein kaputter Zaun, ein schiefes Firmenschildchen und eine Eisentür. So präsentiert sich das Estudio
Mariscal 2007 von außen. Wir stehen vor der Tür. Wir, das sind eine Gruppe Studenten und ich. Als Dozent bei der FH Freiburg habe ich eine fünftägige Studienfahrt nach Barcelona organisiert.
Barcelona, die Design-Metropole, nur etwa drei Flugstunden von Basel entfernt mit vielen angesagten Studios, die wir neben den Hochschulen BAU und Elisava besichtigen wollen.
Nach vielen Mails und Telefonaten steht meine kleine Liste mit Terminen bei Vasava Artworks, Albert Folch Studio und bei PAU. Das Highlight für mich ist der Besuch im Estudio Mariscal in der
Pellaires 30-38. Estudio Mariscal liegt nicht weit entfernt von der Hochschule BAU in einem ehemaligen Industriegebiet in Hafennähe. Die junge PR-Managerin Eva empfängt uns und führt uns durch
das zweistöckige Studio, in dem über zwanzig Kreative arbeiten.
Der untere Bereich ist durchzogen von einfachen Regalen als Raumteiler. Vom Studio entworfene Designerspielsachen präsentieren sich in den Fächern. Zwischen den Regalen stehen immer wieder
Besprechungstische. An einem sitzt Javier Mariscal, Chef und Namensgeber, gerade im Gespräch. Vermutlich Hotelkunden, meint Eva. Den Hauptumsatz macht Mariscal mit der Ausstattung internationaler
Hotelketten. Design-Projekte vom Schlüsselanhänger bis zum Teppichmuster. Bekannt geworden ist der Designer allerdings als Erfinder des katalanischen Schäferhunds »Cobi«, dem Maskottchen der
Olympischen Spiele 1992.
Im oberen Stock organisiert Tono Errando, einer der Brüder von Mariscal, das Trickfilmgeschäft. Hier sitzen die Mitarbeiter an großen Tischen, zeichnen und kolorieren von Hand. Mir kommt es vor,
als wäre ich per Zeitmaschine bei Walt Disney in einer historischen Hollywoodproduktion gelandet.
Eva erzählt vom neuesten Projekt, einem Animationsfilm, der in der Zeit vor und nach der kubanischen Revolution spielt. Sie zeigt uns den noch unfertigen Trailer: Chico & Rita, eine
Liebesgeschichte zwischen einem Musiker und einer Sängerin, mit Jazzmusik aus Havanna und New York in 50er Jahren.
Mit leuchtenden Augen berichtet sie von der Entstehungsgeschichte des Films. Errando und Mariscal arbeiten bei Chico & Rita mit dem Oscar-prämierten Regisseur Fernando Trueba (BELLE EPOQUE)
zusammen. Seit Mariscal für Truebas Jazzdoku Calle 54 alle Artworks entworfen hat, verbindet die beiden eine intensive Freundschaft, aus der auch ein eigenes Jazz-Restaurant in Madrid
hervorgegangen ist. Und nun ein gemeinsamer Film, in dem kubanische Musiker nach New York ziehen und sich mit den dortigen Jazzern zusammenschließen. Außerdem kommen Design und Architektur der
50er Jahre Mariscal sehr entgegen, sie gehören visuell zu seiner Welt.
Im Film stellt die Geschichte der Musiker nur den Kontext dar. Fernando Trueba will eine klassische Liebesgeschichte, Verlieben, Trennung, Wiederfinden. Eingebettet in zwei Welten, die von
Havanna und die von New York der damaligen Zeit. Zur Recherche verbrachten die Regisseure vier Wochen in Havanna um zu filmen. Obwohl Chico & Rita ein Animationsfilm wird. Das Filmen hilft
den Zeichnern, erklärt Eva, die Bewegungen der handelnden Personen zu visualisieren und die Kamerabewegungen natürlicher und menschlicher zu gestalten. Außerdem entdeckten die Filmemacher einen
echten Schatz: In einem Fotoarchiv lagern Aufnahmen von jeder Straßenecke in Havanna von 1949. Spielende Musiker und rauchende Amerikaner fanden sie in Aufnahmen aus Flugzeugen, die die
Partygäste in den 40er, 50er Jahren auf die Karibikinsel bringen.
Als nächsten Schritt mussten die drei Caballeros herausfinden, in welchem Animationsstil der Film gezeichnet werden soll. Realistisch oder grafisch? Oder eine Melange? Reales Geschehen ist sehr
präzise, Animation dagegen erfindet Wirklichkeit. Die Figuren bewegen sich anders, Schauspieler geben zwar Gefühle, Animation aber auch Poesie. Dafür suchten die Regisseure einige der besten
Designerinnen und Designer zusammen, mit viel Erfahrung und der Fähigkeit, sich weg von ihren alten Werkzeugen zu neuen Animationstechniken zu bewegen.
Eine weitere Herausforderung stellte sich mit der Verlagerung der Handlung von Havanna nach New York. Die Stimmung im Film verändert sich schlagartig, denn Manhattan ist eine vertikale Stadt und
fast monochrom, Havanna ist horizontal, sonnig, warm, bunt. Eva zitiert Mariscal: »Wir haben New York und Havanna. Wir haben Latinos und Anglos. Was ist ein Latino? Ein bestimmtes Wetter, eine
Farbe, Musik, Mode, eine Art zu lieben.«
Das Setting ist wichtig, dennoch hat die Geschichte Vorrang. Wieder Mariscal: »Es geht immer um die Geschichte. Jeder Punkt, jeder Strich, jede Farbe, jede Bewegung, jeder Hintergrund soll die
Geschichte erzählen. Die Welt, die wir erschaffen müssen, ist immer: ‚Ja, Rita, bitte küsse Chico nochmal, fabelhaft.« Was für eine wunderbare Zeichnung von Mariscal, so ein schönes Licht, was
für eine tolle Bewegung. »Nein – ich mache fantastische Zeichnungen und werfe sie dann fort, weil sie für den Augenblick nichts leisten. Ich überlege die ganze Zeit, was für die Zuschauer das
Beste wäre. Das ist es, was wir machen müssen.«
Für die beiden Figuren fanden die Filmemacher echte Vorbilder. Für Chico stand der kubanische Pianist, Bandleader, Komponist und Arrangeur Bebo Valdés Pate. Immerhin hatte Trueba ihn in Stockholm
wiederentdeckt und mit ihm dann das mit dem Grammy ausgezeichnete Album LAGRIMA NEGRAS produziert. Valdés hat die Filmmusik komponiert. Ein Foto aus seinen jungen Jahren inspirierte Mariscal beim
Entwurf von Chicos Aussehen, dennoch soll die Figur des Chico ein Tribut an alle kubanischen Musiker dieser Epoche sein.
Sängerin Rita lehnten sie sich an den Flamencostar Estrella Morente an. Laut Trueba steht sie mit einem Fuß im 19., mit dem anderen Fuß im 21. Jahrhundert. Sie ist ehrwürdig und gleichzeitig
modern. Ein Spagat, der sich auch bei den Musikern findet. Die Crew entschied sich dafür, heutige Musiker zu bitten, im Stil der damaligen Musiker Cole Porter oder Thelonious Monk zu spielen. Sie
casteten einen Tenorsaxophonisten, der Ben Webster spielen kann, einen Altsaxophonisten im Stil Charlie Parkers oder einen Trompeter wie Dizzy Gillespie.
Und dann lässt Eva den Trailer noch einmal ablaufen. Bilder und Musik erwecken in mir eine nostalgische Lust, hier in den ganzen Film einzutauchen, doch unsere Zeit ist um. Wir bedanken uns
herzlich bei Eva und verlassen durch die Eisentür die Mariscal Studios. Als wir an den historischen Motorrollern vorbei kommen, wird mir klar: Sie parken hier nicht einfach im
Lagerhallenambiente, sie sind visuelle Vorlagen für die Zeichner. Ein kurzer Moment taucht noch einmal der Abspann des Trailers vor meinen Augen auf. »Liebe ist ein Lied, das man nie mehr
vergisst.«
SLANTED: Since working for Jazzdoku Calle 54 you have had an intensive friendship with Fernando Trueba. Together with Fernando you run a Jazz restaurant in Madrid. What is your favorite direction
in Jazz?
MARISCAL: My favorite is Latin jazz: the Latin jazz story is the central topic in the film “Chico & Rita”; how it developed on the island of Cuba and how it made its way around the USA and
Europe.
SLANTED: You know a lot about Jazz. What do you think is special about the Jazz history of Cuba?
MARISCAL: Everything in Cuba is special; they have developed a Jazz story on the island, a Jazz where you can notice the African roots, the slave music and the Caribbean way of life …
SLANTED: La Habana / New York – The contrast of colours, people and locations are so important in “Chico & Rita”, but yet the Jazz music is used as the global language throughout the whole
movie. Do you think Jazz is still important for Cuban people today?
MARISCAL: Of course, the new Cuban groups are still in the same Jazz stream.
SLANTED: In 2010 I saw Chucho Valdez play at Theatro Mella in Havana. It was a great concert and people told me Chucho had played in New York just a few days before. Theatro Mella was sold out
and it was a fantastic atmosphere that continued on during the drive back downtown along the Malecón in an old 57’Chevy Taxi stuffed with lots of people. Is it this Caribbean drive in the music
of Cuba that one feels in Chico & Rita?
MARISCAL: Chico & Rita script is the history of latin jazz based on Bebo Valdés story. Together with Fernando Trueba I wanted to make a homage to Bebo Valdés’music and his contribution to
expand cuban jazz beyond the borders of the island.
SLANTED: Why did you draw the movie in 2D?
MARISCAL: The style of the movie follows the “bande dessinée” tradition, it’s a 2D style.
SLANTED: Is the dream sequence the most important part for your illustration ideas in “Chico & Rita”?
MARISCAL: A film cannot express the whole idea in a single sequence; I hope that people will catch other ideas as well in the film.
SLANTED: Which part of the movie do you like best?
MARISCAL: … too many to be described here.
SLANTED: Chico & Rita is a story based in Cuba’s past. Only one time do you show contemporary young Cubans listening to Rap on the streets of Havana. Could you imagine making a film about
contemporary Cuban music?
MARISCAL: To make a movie is an extraordinary experience. Let me know if you find a producer and I’ll start a new one** whenever you want.
SLANTED: Do you know Mr. Candyman, Baby Lores or Gente D Zona?
MARISCAL: Not as well as I would like.
SLANTED: Young Cuban people are listening to Rap and Reggaetón. Do you think “Chico & Rita” also has a message for young Cubans today?
MARISCAL: I think that contemporary music is always related to the music of the past. Music maintains, revisits, plays and breaks the the rules of everything before it.
SLANTED: Thank you very much! Special thanks to Estudio Mariscal. Barcelona / Spain,
www.mariscal.com
Is there anybody out there who likes to produce a new movie with Javier Mariscal about Rap and Reggaetón in Cuba?
von Beate Mitzscherlich
Sie tanzen Standard und Latein. Cha-Cha-Cha. Die Tänzer sind noch sehr jung. Sehr biegsam. Sie beherrschen die Schritte und die Bewegungsabläufe perfekt. Aber sie verstehen noch nicht, was sie da tanzen. Sie bewegen die Hüften aufeinander zu, als wäre das ein Spiel.